Kaleidoskop

Das genormte Kind

Maria Grahl (mg) · 01.03.2018

Foto: © RioPatuca Images – stock.adobe.com

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Wir Menschen haben eine ganz besondere Eigenschaft, die sonst kein Lebewesen besitzt: Wir denken in Schubladen und sind fähig zu kategorisieren. Und diese Eigenschaft, da sind sich Psychologen einig, ist wichtig für unser Überleben. Beim Schubladendenken geht es schließlich nicht nur um niedere Denkmuster, die Rassismus oder ähnliches bedienen. Es hilft uns vor allem, Situationen in „gefährlich“ und „ungefährlich“ einzuordnen. Fährt das Auto oder parkt es? Läuft dort vorn ein Hund oder ein Wolf? Ist das eine Süß- oder eine Tollkirsche? Indem wir in Schubladen denken, erleichtern wir unseren Alltag also ungemein.

Und weil dieses Kategorisieren so praktisch ist, wenden wir es direkt auf unsere Kinder an. Ab dem ersten Tag der Schwangerschaft gibt es Richtwerte, wie schwer und wie groß ein Embryo zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt sein sollte. Vermisst man Bauch- und Kopfumfang des Ungeborenen, lässt sich das Gewicht schätzen ermitteln. „In meiner Hebammensprechstunde erlebe ich immer wieder verunsicherte Eltern“, sagt Hebamme Marion. „Alle erwarten entweder ein viel zu großes oder ein viel zu kleines Kind. Bei den Messungenauigkeiten, die der Ultraschall mit sich bringen kann, fällt fast jedes Kind irgendwann mal aus der Kurve.“

Die Diagnostik-Mühle

Ähnlich und mit all seinen Konsequenzen erlebte es Melanie. Sie war mit ihrem ersten Kind schwanger und freute sich auf den ersten Ultraschall. Dem Termin sah sie gelassen entgegen. „Ich spürte, das alles okay mit mir und dem Baby ist“, sagt sie. Ihr Mann begleitete sie. Die Ärztin arbeitete zunächst ihren Fragenkatalog ab: Wann war die letzte Periode? Rauchen oder trinken Sie? Gibt es Erbkrankheiten in der Familie? Dann ist endlich der Ultraschall an der Reihe. Melanie sieht einen kleinen zappelnden Punkt auf dem Monitor. Ihr Freund verdrückt eine Freudenträne. Doch die Ärztin wirft ein: „Sind Sie sich sicher, dass Ihre letzte Periode wirklich an diesem Tag war? Der Embryo sieht etwas größer aus.“ Die Ärztin nimmt einen Tipp-Ex und korrigiert den errechneten Geburtstermin (ET) im Mutterpass sieben Tage nach vorn. „Damals hatte das für mich gar keine großartige Bedeutung“, sagt Melanie rückblickend. Doch was dieser einmal festgesetzte ET für eine Wirkung haben kann, erfährt die junge Mutter neun Monate später. Der ET rückte näher – und verstrich. „Ich musste alle zwei Tage zum CTG-Schreiben in die Praxis oder ins Krankenhaus. Und obwohl das Baby keine auffälligen Herztöne hatte, wurde mir nach zehn Tagen zur Einleitung der Geburt geraten.“ Melanie willigte ein. Die Geburt war zäh und zog sich lange hin. „Das könne an dem hohen Gewicht liegen“, sagte der diensthabende Gynäkologe, der das Ungeborene vor ein paar Stunden auf 3500 Gramm geschätzt hatte. Schließlich kam Sohn Felix ohne weitere Eingriffe zur Welt. Sein Körper war bedeckt mit viel Käseschmiere. „Der hätte aber noch ein paar Tage gehabt“, stellte die Hebamme fest. Felix sah nicht aus, wie ein Kind, das übertragen wurde. Und Melanie wunderte sich über das Geburtsgewicht von 2900 Gramm.

Sind Kinder erst einmal auf der Welt, geht es dann richtig los. Der APGAR-Test steht an, mit dem sich der klinische Zustand von Neugeborenen standardisiert beurteilen lässt. Es folgt die U1, wenige Stunden nach der Geburt. Die U2 wird den frischgebackenen Eltern direkt noch in der Klinik angeboten. Bis dahin ist das Baby jeden Tag gewogen worden, um den Gewichtsverlauf gut einordnen zu können. Bis zu 10 Prozent Gewichtsverlust in den ersten Tagen sind okay. 11 Prozent nicht.

„Mein Sohn hatte am dritten Tag nach der Geburt 11 Prozent Gewicht verloren“, erinnert sich Jana. „Seitens des Pflegepersonals wurde ein immenser Druck auf mich aufgebaut, dass ich doch bitte zufüttern möge.“ Jana entschied sich dagegen und Sohn Noah nahm schließlich doch zu. Ganz ohne Fläschchen.

Für Mütter, die sich des Stillens und der Milchmenge nicht ganz sicher sind, stehen auf das Gramm genaue Babywaagen zur Verfügung. Durch die sog. „Wiegeprobe“ können Mütter herausfinden, wie viel ihr Kind pro Mahlzeit getrunken hat. 50 ml pro Mahlzeit werden bei einem drei Tage alten Baby empfohlen. Später gilt die Regel „ein Sechstel des Gewichts“. Auch hier ist eine Waage unabdingbar. Da Eltern die Obhut des Krankenhauses irgendwann verlassen, bieten Apotheken schon lange Babywaagen zum Verleih an.

Instinkt vs. Tabellen

„Der Instinkt mancher Eltern scheint nicht mehr so ausgeprägt zu sein“, sagt Hebamme Marion. „Einige nehmen gewisse Werte zu genau. Sie möchten ihr Kind gern standardisieren und sind enttäuscht, wenn es nicht klappt. Dann ist es ein Problem, wenn es mit zwei Wochen noch stündlich trinkt, mit fünf Wochen noch nicht lächelt, mit sechs Monaten keinen Brei mag, mit neun Monaten nicht krabbelt und mit einem Jahr nicht durchschläft.“
Woher das kommt, weiß sie auch nicht so genau „Das enge Netz der Gesundheitsvorsorge in Deutschland ist ein Segen“, sagt Marion. „Aber es kann auch ein Fluch sein. Es geht immer um Zahlen und um Leistung. Die genaue Überwachung rettet einerseits Leben und setzt andererseits gesunde Kinder unter Druck, die sich nur langsamer entwickeln, als der Durchschnitt im Lehrbuch es vorgibt.“

Zu sehr gründlichen Ärzten, die lieber einmal den Schädel röntgen, weil das zwei Monate alte Kind so viel schreit, als etwas Lebensgefährliches zu verpassen (mit drei Monaten war der Spuk übrigens von selbst vorbei), kommen überambitionierte Eltern, die die Us mit einer Matheolympiade gleichsetzen. „Ich habe Eltern erlebt, die am Boden zerstört waren, weil ihr dreijähriges Kind keinen geschlossenen Kreis malen konnte“, sagt die Kinderarzthelferin Sophie. „Sie machen sich Vorwürfe, dass sie im Vorfeld nicht genug gelernt hätten. Dabei sind dieses Tests für uns nur Richtwerte. Einige Eltern fragen nach der U auch, ob andere Kinder besser abgeschlossen haben.“



Problematisierung von Individualität

Auch der Druck von Außen spielt eine Rolle. Die Frage nach dem Schlafverhalten des Babys und der folgenden entsetzten Antwort „Waaas?! Also mein Kind...!“, kennen fast alle Eltern. Aber wie eine leichtfertige Bemerkung der Nachbarn uns treffen kann, weil unser Kind mit zwei Jahren möglicherweise zu zurückhaltend sei, ist uns manchmal gar nicht klar. Oder die Beurteilung der Kindergärtnerin, dass die Dreijährige auffällig verträumt sei, kein Interesse an anderen Kindern habe und ob man das nicht mal beim Arzt abklären lassen wolle. Oder die Feststellung eines Kollegen, der meint, mit vier Jahren sollten alle Kinder nachts trocken sein, andernfalls würde ein psychisches Problem zu Grunde liegen. Oder die Bemerkung der Freundin, ob es normal sei, dass der Sohn mit fünf noch kein Haus mit Schornstein malen könne und sie überhaupt die Haltung des Stiftes mal beobachten würde. Oder das Tadel der Oma, mit sechs müsste man nun aber besser an einer Linie entlang schneiden können. Oder die Feststellung der Lehrerin, dass sich die meisten Kinder mit sieben besser konzentrieren.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Verordnung von Therapien an Kindern zugenommen haben. Wurden 2003, als die Zahlen im Heilmittelreport des wissenschaftlichen Instituts der AOK erstmals erhoben wurden, noch 9,8 Prozent der Kinder bis 14 Jahre eine Sprech-, Physio- oder Ergotherapie verordnet, waren es 2016 11,8 Prozent. Den größten Anteil der Kinder in Therapie (etwa die Hälfte), macht die Gruppe der Vor- und Grundschüler aus. Sind heute wirklich mehr Kinder therapiebedürftig? Oder stehen die Kinderärzte unter Druck, lieber einmal zu oft den Überweisungsblock zu zücken, als einmal zu wenig?

„Es wird mir egaler“

Jana, die inzwischen drei Kinder hat, ist gelassener geworden, was die Meinung anderer angeht. Noah geht schon in die zweite Klasse und löst dort Mathe-Aufgaben, die eigentlich erst in der siebten dran wären. „Das ist einerseits toll, andererseits wird diese Leistung oft als abnormal abgestempelt. Und statt sich über diese Stärke zu freuen, wird von anderen kritisiert, dass er nicht ordentlich grüßt und zu verträumt ist. Auf seine Schwächen wird viel mehr geachtet.“

Ein Siebenjähriger, der nicht grüßt und ein Mathe-Ass ist, passt nicht in unsere Schublade eines „normalen“ Siebenjährigen. Wir - Eltern, Nachbarn, Ärzte, Freunde - neigen in unserem Streben nach Perfektion schnell zur Problematisierung von Verhaltensweisen, die in kein konkretes Muster passen. Vielleicht sollten wir uns öfter daran erinnern, dass jedes Kind sein eigenes Tempo und einen individuellen Charakter hat.

„Mit drei Kindern gibt es eigentlich andauernd Ärger“, stellt Jana abschließend fest. „Und egal welches Alter: Es hört nie auf. Aber es wird mir egaler.“

 

Kategorien: Kaleidoskop , Ratgeber

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